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Fall Sommer 2023

Beschreibung:

Ein fast 11-jähriger Junge ist gesund und spielt Fußball. Er bemerkt dabei Schmerzen an seiner linken Tibia und kann nicht mehr spielen. Er hat keinen nächtlichen Ruheschmerz!

Ihnen liegen zur Beurteilung vor (in dieser Reihenfolge):

  • Röntgenaufnahme der Tibia in einer Ebene
  • MRT mit 4 Sequenzen: PD FS sagittal und axial, T1 axial, T1 FS nach KM axial.
  • CT der Tibia sagittal und axial, 1 mm Schichten.

Wir benutzen zur Präsentation der DICOM Bilder den Berlin Case Viewer und danken Prof Dr. Kay-Geert Hermann, Berlin für die Überlassung.

EINSENDESCHLUSS: 17.09.2023
Aus den richtigen Antworten wird eine Gewinnerin oder ein Gewinner ausgelost. Der Preis ist eine kostenlose Teilnahme an einem der Seminare von “msk-wissen” 2024 oder 2025. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Fall Sommer 2023

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Der “Aktuelle Fall Sommer 23” ist noch NICHT endgültig gelöst. Derzeitiger Stand der Diagnosefindung:
“Unklarer proliferierender osteochondromatöser Prozess der proximalen Tibia”.

Die Gewinnerin ist: Jennifer Rauscher, Regensburg

Herzlichen Glückwunsch!. Da der Fall noch nicht abschließend geklärt ist und eine definitive, kombiniert radiologisch-histologische Diagnose noch nicht vorliegt, wurde die Gewinnerin aus allen 24 Einsendungen ausgelost.
Die Diskussion der Vielzahl der eingesendeten Diagnosen, der Grund für die Präsentation und das weitere klinische Vorgehen, wird hier in Kürze diskutiert.

 

Zu den radiologischen Befunden der Ihnen vorliegenden Bilder:

Röntgen-Übersicht des linken Kniegelenks seitlich

Die Epiphyse ist normal geformt, die offene Epiphysenfuge jedoch verläuft schräg nach dorsal absteigend. Ursache dieses Verlaufes ist eine leichte Biegung der Tibia nach ventral mit Scheitelpunkt im proximalen metaphysären Anteil (prox. Tibia antecurvata). Die normal gerade verlaufende Fibula hat deswegen in der Seitaufnahme im oberen Drittel einen vergrößerten Abstand zur Tibia.

Die zu beschreibende (siehe CT und MRT) Verdichtung des ventralen Anteils der Tibia beginnt direkt unterhalb der Epi- bzw. Apophysenphysenfuge und erstreckt sich nach kaudal auf einer Länge von ca. 11 cm.

 

Computertomographie des linken Unterschenkels (obere zwei Drittel) in seitlicher und axialer Schnittrichtung

Epiphyse:

Der laterale Anteil der Epiphyse ist verformt und zeigt in seinem ventralen Anteil keine reguläre Spongiosierung. Der überhängende, der Tuberositas tibiae entsprechende Anteil der Epiphyse ist ausgebildet, jedoch partiell segmentiert und partiell sklerosiert (Abb. 1). Eine Verschmelzung mit dem obersten ventrolateralen Anteil der Metaphyse liegt altersgemäß noch nicht vor.

Abb. 1. Siehe Text. Der laterale Anteil der Tibia ist dargestellt.

 

An keiner Stelle ist eine knöcherne Kontinuität zwischen der Tuberositas tibiae und dem darunter noch zu beschreibenden osteochondromatösen Prozess nachweisbar.

Im ventralen Anteil der Tibiametaphyse, bis zur -diaphyse reichend, ist die Kompakta breitbasig, aber relativ harmonisch aufgetrieben und in ihrer Struktur deutlich gestört.  Dieser Prozess hat eine Länge von knapp 9 cm und eine Breite von knapp 4 cm (dies ist fast der gesamte mediolaterale Durchmesser der Tibia). Der Prozess hat eine kappenartige Form und weist eine wellig, genoppte Oberfläche auf (Abb. 3). Die Läsion hat die Kompakta vollständig ersetzt und hat eine geringere Dichte als die weiter kaudal sichtbare, normale Kompakta. Der Übergang zur normalen Spongiosa innerhalb der Tibia ist relativ scharf (Abb. 2).

Die TT-TG-Distanz wird mit 22 mm gemessen und liegt damit knapp oberhalb der Norm. Durch die Biegung der Tibia und durch eine Untersuchung nicht ganz in Extension ist der Wert unsicher und eher zu klein.

Abb. 2. Siehe Text. Der sagittale Schnitt liegt in etwa mittig.

 

MRT des linken proximalen Unterschenkels

Die vorbeschriebene Biegung des proximalen Unterschenkels führt zu einer Schrägstellung der Epiphysenfuge.  

Der ventral überhängende Epiphysenanteil (epiphysärer Anteil der Tuberositas) ist partiell ossifiziert und wirkt dadurch segmentiert. Es wird – im Gegensatz zum CT – deutlich, dass die Tuberositas tibiae und der osteochondromatöse Prozess (s. unten) kaum voneinander getrennt sind, indem beide Strukturen vom Lig. patellae überspannt werden (Abb. 3). Der Vergleich mit einem Normalbefund (gleichaltriger Junge, Abb. 4) verdeutlichen zudem semiquantitativ die Lateralisierung des Patellaansatzes an der Tibia.

Abb. 3. Ansatz des Ligamentum patellae sowohl am epiphysären Anteil der Epiphyse als auch an dem darunterliegenden ostochondromatösen Prozess. Der sagittale Schnitt verläuft mittig durch das Lig. patellae.

Abb. 4. Normalbefund des Patellaansatzes bei einem gleichaltrigen Jungen im Vergleich zu Abb. 3. Hier noch keine Ossifizierung der Tibiaapophyse.

 

Im MRT ist die im CT beschriebene, sklerosierende, gegenüber einer normalen Kompakta aufgelockerte Verdickung in gleicher Größe abgebildet. Die Differenzierung der einzelnen Gewebeanteile ist jedoch besser möglich. Irregulär, dennoch scharf zur Spongiosa begrenzt, hat sich eine kappenfömige ossäre Verdickung entwickelt. Diese sklerotische Verdickung hat nach außen einen exophytisch-blumenkohlartigen Charakter. Dieser Sklerose liegt wiederum eine teils sehr signalreiche Knorpelkappe auf.  Anteile der Knorpelkappe haben ein typisches Wassersignal (Abb. 5). Die zusätzliche Kontrastmittelgabe identifiziert diese Kappe jedoch nicht als Wasser, sondern eindeutig als unverkalkter Knorpel. Hervorzuheben ist auch, dass sich im T1-gewichteten Bild zentral innerhalb der osteokartilaginären Läsion schon signalreiches, d.h. also  fetthaltiges Knochenmark entwickelt hat (Abb.  6)

Abb. 5. Darstellung der sehr signalreichen Knorpelkappe über der sklerotischen Proliferation.

Abb. 6. Proximaler Anteil des osteokartilaginären Prozesses mit unterstem Anschnitt des sehr weit lateral gelegenen Lig. patellae.

 

Die Kommunikation des Knochenmarks mit dem breitbasigen blumenkohlartigen sklerotischen Prozess ist deutlich.

 

Radiologische Gesamtbeurteilung: 

Langstreckiger, proliferierender osteochondromatöser Prozess der proximalen Tibia in Kontinuität zur Tuberositas tibiae. Der Befund ähnelt einem breitbasigen, sessilen Osteochondrom der vorderen proximalen Tibia, ohne allerdings die klassischen Kriterien eines Osteochondroms zu erfüllen.

Es liegt ein direkter anatomischer Zusammenhang zwischen der Proliferation und der Tuberositas tibiae vor. Allerdings erfüllen sich nicht die Kriterien für einen klassischen M. OsgoodSchlatter. Das Lig. patellae ist zwar in den Prozess miteinbezogen, aber völlig unauffällig und ohne jeden Hinweis auf eine Tendinopathie.

 

Diskussion

Dieser Fall ist kompliziert und eine nachvollziehbare, Histologie und Radiologie vereinende Diagnose ist im Moment noch nicht gelungen.  Das ist in solchen Fällen keine abnormale Situation und das wollten wir auch einmal zeigen. Nicht alles ist immer so „klar“ wie es dargestellt wird!

Die Mehrheit (9/24) der Quizteilnehmer und -teilnehmerinnen haben als Diagnose das Osteochondrom favorisiert. Der Diagnose kann man auf dem ersten Blick etwas abgewinnen, wozu auch die Antekurvation der proximalen Tibia passen würde. Bekannterweise führen derart breite Osteochondrome zu “Verbiegungen” langer Röhrenknochen.

Allerdings:

Die Diagnose des Osteochondroms basiert radiologisch auf der kontinuierliche Verbindung der Proliferation mit dem spongiösen Markraum des betroffenen Knochens. Dies ist im vorliegenden Fall nur ansatzweise gegeben. Die Kompakta des Stammknochens umhüllt normalerweise die Spongiosa. In unserem Fall ist die Kompakta aber selbst massiv verändert. Die kartilaginäre Kappe wiederum spricht für ein Osteochondrom.

 

Zusammenfassend: Die klassischen Kriterien eines Osteochondroms sind nicht erfüllt. Auch histologisch (PD Dr. Mathias Werner, Berlin) fehlt der typische Aufbau eines Osteochondroms in den Präparaten.

 

Weitere genannte Diagnosen:

Osgood-Schlatter

Eine Ossifkationsstörung an der Apophyse der Tibia im Wachstumsalter, vor allem bei Sport treibenden Kindern und Jugendlichen. Aufgrund der Klinik (Schwellung, Schmerzen) und der Mitbeteiligung des Lig. patellae auch als „Traktionsapophysitis“ bezeichnet.

In unserem Fall ist der osteochondromatöse Prozess zwar unter dem Lig. patellae in seinem obersten Anteil sichtbar. Aber die Insertion des Ligaments als auch der knöcherne Übergang sind ohne Hinweis auf eine entzündliche Komponente. Auch die Größe des Prozesses ist mit einem M. Osgood-Schlatter nicht zu vereinbaren.

 

Nora-Läsion (bizarre parosteale osteochondromatöse Proliferation)

Bei der Nora-Läsion sind Verknöcherungen typisch, die in der Regel direkt von der intakten oder nur von außen arrodierten Kortikalis ausgehen. Sie können eine Knorpelkappe aufweisen und dann mit Osteochondromen verwechselt werden. Typisch ist der Befall am Hand- oder Fußskelett. Röhrenknochen sind nur sehr selten betroffen. Man ist sich eigentlich einig, dass es sich um reaktive, traumainduzierte Veränderungen des Periosts und der angrenzenden Weichteile handelt.

In unserem Fall passen radiologisch die Kortikalisveränderungen überhaupt nicht zur Diagnose einer Nora-Läsion. Auch histologisch (PD Dr. Werner, Berlin) ist eine Nora-Läsion ausgeschlossen worden.

 

Sklerosierende Osteomyelitis Garré

Die Diagnose ist eigentlich „out“. Zurecht. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Garré 1893 (!) eine mit einer starken Sklerose der Kompakta einhergehende Periostitis, sei sie entzündlich oder reaktiv bedingt, beschrieben hat.

In unserem Fall liegt ein langjähriger, klinisch inapparenter Prozess vor, der zu Verbiegungen des Knochens und zu einer teils blumenkohlartigen, teils flächigen knöchernen Proliferation geführt hat. Vor allem eine Knorpelkappe wäre für eine – auch reaktive – Osteomyelitis völlig untypisch.

 

Dysplasia epiphysealis hemimelica

Auch als „Trevor‘s disease“ in der Literatur hinterlegt; eine extrem seltene Entwicklungstörung mit der Entstehung von einem oder mehreren  Osteochondromen aus der Epi- oder Apophyse.

Der Prozess im vorliegenden Fall könnte natürlich von der Tibiaapophyse ausgegangen sein, ist für uns aber zu breitbasig, zu wenig exostotisch, als dass wir uns für diese Diagnose erwärmen können.

 

Melorheostose

Die Melorheostose in ihrer klassischen Ausformung wird mit dem „fließenden Wachs“ – der Kortikalis aufliegend – bildhaft und gut beschrieben. Es gibt auch osteomartige Formen, die dann allerdings keine proliferative, raumfordernde Komponente aufweisen. Beide Befunde finden sich in unserem Fall nicht.

 

Chronische Stressreakton der anterioren Tibia

Dies ist aus unserer Sicht ein guter Gedanke. Aber wie ist es zu dieser Läsion gekommen? Siehe dazu weiter unten.

 

Nicht von den Einsendern genannte Diagnosen: 

Periostales Chondrom

Dieser Tumor ist sehr selten und stellt einen hyalinen Knorpeltumor auf der Knochenoberfläche der Metaphysen langer Röhrenknochen dar; er liegt subperiostal. Typischerweise führt er zu einer schüsselförmigen Arrosion der Kompaktaoberfläche mit manchmal überhängenden Knochenrändern. Diese radiologischen Zeichen fehlen hier.

Freyschmidt gibt dazu in seinem „Knochentumor-Buch“ (S. 367) eine sehr anschauliche Gegenüberstellung zwischen periostalem Chondrom und einem breit-sessilem Osteochondrom; letzteres ähnelt unserem Fall.

 

Parosteales (parossales) Osteosarkom:

Der Prozess schaut eigentlich „benigne“ aus. Aber:

Die Literatur gibt einige Hinweise, dass die Differenzierung Osteochondrom versus parosteales Osteosarkom (pOS) klinisch, radiologisch und auch histologisch sehr schwierig sein kann. Klinisch sind beim pOS bis zu 15 Jahre Schmerzfreiheit dokumentiert!

Makroskopisch sind pOS harte, sklerotische Raumforderungen, die von der Kortikalis ausgehen. Ein Teil der Fälle (ca. ¼) weisen eine osteochondromartige kartilaginäre Kappe auf. Dedifferenzierte, „weiche“ Tumoranteile sind nur selten nachzuweisen.

Die pOS können ein exophytisches Aussehen haben und die Kortikalis im Zentrum des Tumors völlig zerstören und als Sklerosen in den Markraum einwachsen. Allerdings wachsen sie mit zunehmender Entfernung vom Zentrum dann auf der Kortikalis, so dass radiologisch und histologisch eine Demarkationslinie zwischen dem äußeren, sklerotischen Tumor und der Kortikalis zu sehen ist, bekannt als „string sign“ oder „cleft sign“. Dieses Zeichen ist jedoch nicht immer vorhanden.

 

Aus unserer radiologischen Sicht muss an das pOS als DD gedacht werden, obwohl die Demarkationslinie in der Peripherie des Tumors fehlt (Abb. 7).

Abb. 7. Links Ausschnitt der osteochondromatösen Proliferation proximal mit zentraler Zerstörung und nach außen Überwachsung der verdickten Kompakta. Weiter kaudal ist eine feine Kortikalis-ähnliche Struktur außen zu erkennen. Dies ist untypisch für ein pOS. Zur Orientierung vergl. Abb 2.

 

An dieser Stelle sei noch auf ein ganz wesentliches Problem in unserem Fall hingewiesen: es fehlt die intraoperative bildgebende Dokumentation (C-Bogen-Durchleuchtung) der beiden Knochenprobe-Entnahmestellen! Dies erschwert im konkreten Fall die exakte histopathologische Korrelation: zwar ist im vorliegenden Fall bekannt, auf welcher Höhe biopsiert wurde (präop. sonogr. Markierung), aber nicht, wie tief die Entnahme erfolgte, d.h. wieviel der massiven Sklerose tatsächlich geborgen wurde.

 

Konklusion:

Der Fall bleibt (noch) unklar. In einem halben Jahr ist eine 1. Kontrolle sinnvoll. Der Gedanke an eine parosteales Osteosarkom bereitet Kopfschmerzen, auch wenn dafür histologisch derzeit kein Hinweis vorliegt. Aber die Histologie kann nicht die ganze Läsion erfassen. Sie ist immer nur ein Ausschnitt. Deswegen muss der Fall unabdingbar weiter kontrolliert werden.

 

Was wir uns pathophysiologisch vorstellen können, ist, dass eine Stresswirkung über der distalen Ausläufer der Lig. patellae ihren Einfluß ausgeübt hat. Immerhin ist der Junge aktiver Fußballer. Und Schmerzen würden nur bei Belastung auftreten. Möglicherweise hat der Stress zu einer reaktiven Osteochondrose (oder Osteochondromatose) – vielleicht bei präexistentem Osteochondrom (?) – geführt, also zu einer reaktiven (streßbedingten) Stimulierung der Chondrogenese und sekundär auch der Osteogenese. 

Eine Hypothese, mehr nicht. Wir bleiben dran und werden berichten.

 

Prof. Dr. Klaus Bohndorf /Dr. Thomas Grieser

 

Literatur

  • Freyschmidt J. Skeletterkrankungen. Springer Verlag, Berlin, 4. Aufl. 2016
  • Freyschmidt J. et al.: Knochentumoren. Springer Verlag, Berlin, 3. Aufl. 2010
  • Krishna Swaroop DS et al. Osteochondroma-like parosteal osteosarcoma, Indian J Pathol Microbiol. 2008 51(1):58-60
  • Papathanassiou ZG et al. Parosteal osteosarcoma mimicking osteochondroma: A radio-histologic approach on two cases. Clin Sarcoma Res 2011, 1(1)2 Lin j et al. Osteochondromalike parosteal osteosarcoma. AJR 1998, 170: 1571